DIE KUNSTBEDÜRFTIGKEIT DES KOMMENTARS Roland Schappert | KUNSTFORUM International, Bd. 229, 2014
Die Geschichte der Kunst lässt die Kommentarbedürftigkeit zumindest der modernen Malerei immer deutlicher werden, demonstrierte der Soziologe Arnold Gehlen in seinem Buch „ZEIT-BILDER“ von 1960. Natürlich ist es aus heutiger Sicht sehr naheliegend, Gehlens Ansichten über Kunst als hoffnungslos veraltet und reaktionär abzulehnen. Er selbst lehnte in seiner erweiterten Ausgabe von 1972 beispielsweise Marcel Duchamp immer noch als destruktiven Anti-Künstler ab und unterstellte den Kunstbegriff von Joseph Beuys einer bildungslosen „weitverbreiteten Freude am Selbermachen“. Am Anfang seines einleitenden Kapitels „Die Epochen der Malerei“ behauptet er: „Das Wiedererkennen stellt eine ganz fundamentale Leistung des Bewusstseins dar, ohne sie gibt es weder Orientierung noch inneren Zusammenhang der Wahrnehmungen“ Die Geschichte der abstrakten und konkreten Kunst erschien ihm somit als Anzeichen prinzipieller Unverständlichkeit und Beliebigkeit eines zudem nicht mehr auf konkrete Begriffe und Inhalte zu bringenden Kunstgeschehens. Der konservative Kunstfreund Gehlen attestierte der Kunst des 20. Jahrhunderts eine Kommentarbedürftigkeit, die zum Kern der Kunst wie eine Blick- und Leseanweisung dazugehört, die also kein bloß interpretierendes Beiwerk ist. „Die aus dem Bilde nicht mehr eindeutig ablesbare Bedeutung etabliert sich neben dem Bild als Kommentar, als Kunstliteratur und, wie jedermann weiß, auch als Kunstgerede. Die Kommentare, die sich in unübersehbaren Manifesten, Kritiken, Büchern, Broschüren, Ausstellungstexten, Vorträgen usw. darstellen, sind als wesentlicher Bestandteil der modernen Kunst selbst aufzufassen (…).“ Gehlen beklagte zudem, dass sich trotz der Kommentarfluten zumindest ungegenständliche Bilder und deformierte Darstellungen nicht eindeutig identifizieren und in ihrer Individualität sprachlich übersetzen lassen.