„Meine erste Assoziation war Der Kuss von Gustav Klimt, nicht nur wegen des Goldgrunds, sondern auch aufgrund der Komposition: einer Sockelzone und darüber zwar keinem Figurenpaar, aber einer sich ganz ähnlich nach oben auftürmenden aufrechten Form. Aber manchmal mag man seine eigenen Assoziationen nicht. So auch in diesem Fall. Denn es scheint mir nicht weiterzuführen, ein Schriftbild von Roland Schappert mit Blick auf Gustav Klimt zu deuten. Also nahm ich einen neuen Anlauf. Dazu betrachtete ich das Bild zuerst aus der Nähe. Wie ist das gemacht? Eine Handarbeit? Ein spezielles Druckverfahren? Ich gelangte zu keiner schlüssigen Antwort, aber gerade das freute mich. Denn so oft kommt es nicht vor, dass man die Faktur eines Bildes nicht nachvollziehen kann. Man bleibt dann umso länger neugierig, der Blick wird analytisch. Und das passt gerade für Schapperts Schriftbilder; sie verlangen einen solchen Blick. Erst jetzt, im dritten Anlauf, entzifferte ich das Wort FICTION, nahm das Bild dann als eine Hommage an das Reich des Fiktionalen wahr. Die Fiktion ist die Königsdisziplin der Kunst, daher auch das Gold. Aber der analytische Blick stieß mich auch darauf, dass das Bild so etwas wie Fehler aufweist, etwa eine Störung an einer Stelle des Übergangs zur Rahmenzone. Ist es vielleicht mit einem KI-Programm entwickelt? Da tauchen ähnliche Brüche im Bildraum immer wieder auf. Oder spielt Schappert schon damit, dass heute so viele Bilder unter KI-Verdacht geraten? Ist auch das also eine Fiktion?
Wolfgang Ullrich, 23.06.2023